Der folgende Text von Ulrich Menzel befasst sich mit Entwicklungen der internationalen Beziehungen. Die Aufgabe soll das präzise Lesen und Verstehen von Aussagen fördern.
Aufgabe: Lesen Sie vorbereitend den Text von Ulrich Menzel. Bearbeiten Sie dann die interaktive Übung (s.u.), in dem Sie jeweils die Aussage auswählen, die am Genauesten die Aussageabsicht des Verfassers wiedergibt.
Im Ergebnis erhalten Sie eine Textzusammenfassung, die Sie für Ihre Unterlagen speichern können.
Ulrich Menzel: Wohin treibt die Welt?
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft. Er war bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU Braunschweig.
[…] Eine wesentliche Ursache der […] Problemlage ist paradoxerweise, dass in großen Teilen der Welt Entwicklung nachgeholt wird und in den alten Industrieländern unvermindert fortschreitet. Dies bedeutet Wirtschaftswachstum, bessere Ernährung und medizinische Versorgung mit der Konsequenz von Bevölkerungswachstum bei steigender Lebenserwartung und höherem Pro-Kopf-Einkommen – und zugleich wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen innerhalb und zwischen den Ländern. In einer Generation hat sich die Weltbevölkerung auf mehr als 7,5 Milliarden verdoppelt – ein welthistorisch einmaliger Vorgang, der zeigt, dass ein langfristiges lineares in ein kurzfristiges exponentielles Wachstum umgeschlagen ist. Alles zusammen führt mit dem gleichen Exponenten zu steigendem Verbrauch und steigender Belastung von Böden, Mineralien, Energie, Wasser, Biodiversität und Luft mit Konsequenzen für Umweltverschmutzung und Klimawandel. Daraus resultieren innergesellschaftliche Verteilungskonflikte um Berufschancen, Lebensperspektiven, knapper werdende Ressourcen, Renteneinkommen und neue Formen des Kolonialismus, die sich etwa im landgrabbing äußern.Während der Bedarf nach Weltordnung wächst, schwindet zugleich die Fähigkeit, diesen zu bedienen. Angesichts dessen, dass es einen mit einem globalen Gewaltmonopol ausgestatteten Weltstaat nicht gibt, sind grundsätzlich vier Modelle denkbar, wie mit der wachsenden Anarchie der Staatenwelt umgegangen werden kann. Dem realistischen Denken entspricht das Selbsthilfeprinzip. Jeder Staat versucht so gut er kann, seine Interessen gegenüber einer abträglichen Welt aus eigener Kraft wahrzunehmen. Dazu benötigt er Macht und wirtschaftliche Ressourcen. Für große Staaten ist dies eher möglich als für kleine, zumal Erstere immer die Option des Isolationismus besitzen. China und die USA sind die prominentesten Beispiele. Dem idealistischen Denken entspricht die Kooperation der Staaten durch Verträge, internationale Organisationen, das Völkerrecht und normengeleitetes Handeln, das auf gemeinsamen Werten beruht. Das Recht ersetzt die Macht, Arbeitsteilung ersetzt die Autarkie. Die EU war und ist das prominenteste und weltweit erfolgreichste Beispiel.
Wenn man nicht die Anarchie, sondern die Hierarchie der Staatenwelt als ihr wesentliches Merkmal ansieht, kann man zudem zwischen dem hegemonialen Modell und dem imperialen Modell unterscheiden. Anstelle des nicht vorhandenen Weltstaats sorgen die großen Mächte für Ordnung. Der (benevolente [wohlwollende]) Hegemon stützt sich auf seine überragende Leistungsfähigkeit und die Akzeptanz der Gefolgschaft, weil er Ordnung durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter garantiert und zivilisatorische Ausstrahlungskraft (soft power) besitzt. Die USA haben die Rolle des Hegemons nach 1945 über die westliche und nach 1990 über die gesamte Welt eingenommen. Das Imperium hingegen nimmt seine Ordnungsfunktion über Herrschaft wahr, braucht keine Gefolgschaft, sondern kennt nur Knechtschaft. Es liefert aber sogenannte Clubgüter für die zuvor Unterworfenen und stützt sich auf deren Ressourcen. Die Sowjetunion gehörte zu diesem Typ.
Damit konzentriert sich die Frage internationaler Ordnung durch Weltregieren darauf, wer, wie und in wessen Interesse internationale öffentliche Güter wie (militärische) Sicherheit und (wirtschaftliche) Stabilität bereitstellt. […]
Die großen Akteure
Mit Antritt der Obama-Administration 2009 haben sich jedoch die Anzeichen gemehrt (Doppeldefizit von Haushalt und Handel), dass die USA nicht mehr bereit und in der Lage sind, die Rolle des Hegemons wahrzunehmen. Daraus resultiert die Forderung der USA nach Lastenteilung, die sich an die freerider in Westeuropa, Asien und am Persischen Golf richtet. Zudem besteht für ein Land von der Größe der USA immer die Alternative des Isolationismus. Aus dem „Battleship USA“ würde dann eine „Fortress USA“, statt „America as Number One“ hieße es „America First“. Der Wahlkampfslogan des Präsidentschaftskandidaten Donald Trump „Make America Great Again!“ ist der bewusste oder unbewusste Ausdruck dieser Alternative und reflektiert auf populistische Art den zweiten „Niedergang Amerikas“ (American decline). […]
Wenn die USA isolationistische Neigungen zeigen, wie es bis zum Ersten Weltkrieg und erneut in der Zwischenkriegszeit der Fall war, wer könnte die Rolle der USA allein oder im Verbund übernehmen oder zumindest substanziell stützen?
China, dessen Sozialprodukt etwa bis 2030/35 das US-amerikanische übertreffen wird, ist der erste Kandidat für eine Lastenteilung. Aber anders als Japan, das in den 1980er Jahren als der wirtschaftliche Herausforderer galt, will China kein Juniorpartner der USA sein. In ungebrochenem traditionellem Selbstverständnis sieht es sich als „Land der Mitte“. Es verweigert daher auf allen Feldern, die nicht im chinesischen Interesse liegen, eine Lastenteilung, zumal die USA (noch) nicht bereit sind, die Rolle des Hegemons zu teilen.
Chinas Aktivitäten konzentrieren sich auf Zentralasien („Neue Seidenstraße“), den asymmetrischen Handel mit Russland (Fertigwaren gegen Rohstoffe), Ostafrika (landgrabbing zur Versorgung mit Nahrungsmitteln), das Rote Meer und den Persischen Golf, um die Ölversorgung zu sichern. Dazu investiert es in die Rohstoffsektoren vieler Länder, durchdringt häufig auch deren Binnenwirtschaft und unterhält gute Beziehungen zu sogenannten Schurkenstaaten, die unter dem Druck des Westens stehen. Zudem wird es in neuen internationalen Organisationen aktiv, die ohne Beteiligung der USA auskommen (etwa in den BRICS, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder asiatischen Entwicklungsbanken). Mit der pazifischen Flotte forciert China darüber hinaus eine Rüstung, die nicht der Landesverteidigung dient, sondern die Seerouten in das Becken des Indischen Ozeans sichern soll. […] Für den Europa umgebenden Krisengürtel von der Ukraine über den Kaukasus bis hin zum Nahen Osten bedeutet das: Das Engagement der USA lässt nach, und China bleibt passiv.
Ganz anders verhält es sich mit Russland. Nach Überwindung der Transformationskrise der Jelzin-Ära, spätestens seit Beginn der zweiten Präsidentschaft Putins, verfolgt es eine revisionistische Politik der Rückgewinnung des ehemaligen sowjetischen Einflusses. Das ist der Kern des „Putinismus“. Dazu werden politische (Konfrontation in der UNO), wirtschaftliche (Konditionierung bei Gasexport, Trassenverlauf von Pipelines) und militärische Mittel (Ukraine, Syrien) strategisch eingesetzt. Russlands internationales Engagement ist gerade in Syrien nicht im Sinne einer Lastenteilung mit den USA zu verstehen, sondern als Versuch, die Reichweite der US-Hegemonie zu reduzieren. Insofern hat der Revisionismus eine prinzipiell antiamerikanische Tendenz. […]
Übergreifende Entwicklungen
[…] Als erstes ist die religiöse Aufladung kriegerischer Auseinandersetzungen zu nennen. Diese speist sich zum einen aus dem alten Schisma des Islam zwischen Sunniten und Schiiten, das sich heute im Hegemonialkonflikt zwischen Saudi-Arabien im Verbund mit den Golfstaaten und Iran offenbart: In allen arabischen Ländern, die religiös gespalten sind, unterstützt Iran die Schiiten. Die arabischen Ölstaaten intervenieren auf der sunnitischen Seite finanziell, durch Waffenlieferungen und, wie im Falle des Jemen, auch militärisch. Zum anderen werden zahlreiche Konflikte zu einem Kampf zwischen Christentum und Islam stilisiert. Für IS-Kämpfer etwa sind US-Amerikaner und Europäer schlicht „Kreuzfahrer“, wodurch eine Religionsfeindschaft mit jahrhundertealter Tradition konstruiert wird. Sowohl innerstaatliche Konflikte (etwa in Nigeria) als auch der globale islamistische Terrorismus erfahren eine solche religiöse Aufladung.Die zweite Entwicklung, die im aktuellen Krisenbündel eine Rolle spielt, ist die wachsende Unregierbarkeit im Weltmaßstab, resultierend aus dem Zerfall vieler postkolonialer Staaten, die vielfach nur auf dem Papier beziehungsweise in der Hauptstadt bestanden und nur die staatliche Symbolik zu inszenieren wussten, ohne öffentliche Güter für ihre Bürger bereitzustellen. Hier wirkte der Ost-West-Konflikt stabilisierend […]
Drittens kommt die Transformation des Terrorismus zum quasistaatlichen Akteur hinzu. Al-Qaida war der Prototyp eines weltweit operierenden Netzwerkes, das lediglich Rückzugsräume und Ausbildungslager benötigte. Die neue Generation – vornehmlich der IS – baut staatliche Strukturen auf, in denen die Akteure im wahrsten Sinne des Wortes das Gewaltmonopol behaupten. Nicht nur der Westen, die gesamte Welt soll mit einem radikal alternativen Gesellschaftsmodell konfrontiert werden. Der Terrorismus wird zu einer Macht und für die Unterprivilegierten und Perspektivlosen weltweit attraktiv. Da sich Verhandlungen mit Organisationen wie dem IS grundsätzlich ausschließen und die USA nach den Erfahrungen in Afghanistan und Irak den Einsatz von Bodentruppen scheuen, bleibt nur der Drohnenkrieg und am Ende die Stützung der autoritären Regime in den vom Terrorismus bedrohten Ländern.
Wie weiter?
[…] Eine Befriedung des Europa umgebenden Krisengürtels ist in absehbarer Zukunft kaum zu erwarten. Eher droht die Destabilisierung der noch stabilen Inseln, wird sich die Krisenregion über die Sahara hinweg ausweiten. Weil die USA zögern, China passiv bleibt und Russland eine revisionistische Politik betreibt, wird Europa gezwungen sein, in stärkerem Maße als bisher im eigenen Interesse für die öffentlichen Güter Sicherheit und Stabilität an seiner Peripherie zu sorgen und selbst wie eine große Macht zu handeln.Eine wirksame gesamteuropäische Strategie, den Herausforderungen, insbesondere den wachsenden Fluchtbewegungen, zu begegnen, ist aufgrund der heterogenen Betroffenheit wenig wahrscheinlich, zumal das „Projekt EU“ insgesamt in eine vor wenigen Jahren noch unvorstellbare Krise geraten ist. Das politische Ziel, die Fluchtursachen zu bekämpfen, kann zudem nur langfristig Wirkung zeigen. Kurzfristig sind daher zwei Szenarien denkbar: Entweder kehrt Europa zum Selbsthilfeprinzip zurück, und jedes Mitgliedsland greift nach ungarischem Muster zu den Maßnahmen, die seiner individuellen Interessenlage und seinen Kapazitäten entsprechen. Dies würde die Krise Europas verschärfen. Oder es kommt zu einer hegemonialen Lösung, bei der Deutschland notgedrungen voranschreitet. […]
Der vollständige Text wurde veröffentlicht am 21.10.2016 auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung. Abrufbar unter: https://www.bpb.de/apuz/235528/wohin-treibt-die-welt?p=all. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE“ veröffentlicht. Autor/-in: Ulrich Menzel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de